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Kapitel Nr. 8

„Hallo mi amor! Bist du interessiert an einer Freundin?“
„Nein danke.“
„Bin ich etwa hässlich?“
„Nein, das sage ich doch gar nicht.“
„Was ist es dann?“
„Ich habe schon eine Freundin.“
„Na und, willst du nicht noch eine?“
 
Wenn ich etwas auf Kuba gelernt habe, dann dass die Damen sehr direkt sind. Die Freundin die ich schon habe, war eine Notlüge. Doch nicht einmal dieses Argument wirkt, wenn man versucht aufdringliche Annäherungsversuche abzuwehren.
Annelie, Moritz und ich stehen gerade vor der Haustür der Wohnung in der Annelie ihr Zimmer hat, in der Nähe des „Platzes der Revolution“ in Havanna, als mich ein schätzungsweise 16jähriges Mädchen anspricht. Natürlich lehne ich ihr Angebot ab, bin jedoch nicht mehr überrascht über eine Anmache bzw. ein Angebot, wie das ihre. Ich kann nicht sagen ich sei abgehärtet, viel mehr daran gewöhnt habe ich mich. Das Geschäft mit der Liebe und den Touristen ist noch immer eines der lukrativsten, zumindest für die, die den ärmeren Teil der Bevölkerung ausmachen.
 
Heute ist unser letzter Abend in Havanna. Morgen Nachmittag werden wir wieder in den Flieger nach Cancun in Mexiko steigen. Nahezu die ganze Insel haben wir bereist. Von Havanna nach Santa Clara, von Santa Clara nach Trinidad, von Trinidad nach Santiago de Kuba, von Santiago de Kuba nach Havanna, von Havanna nach Viñales, von Viñales nach Pinar del Rio und von dort aus wieder zurück nach Havanna. Es war interessant für mich zu erfahren, wie kurz doch lange Distanzen sein können. Klagte ich Deutschland schon bei einer Fahrt von vier Stunden, erscheinen mir hier auf Kuba acht Stunden im Bus recht harmlos. Zeit ist hier nicht so wichtig. Sie scheint vor einigen Jahren stehen geblieben zu sein oder nur noch zu schlendern.
 
Man glaubt sich in einer anderen Welt. In Havanna spielt sich das hektische und laute Großstadtleben in einer Kulisse aus den 50er Jahren ab. Schuhputzer,  die in der Sonne dösen, Zeitungsverkäufer, die das neue Parteiblatt anpreisen, Anstellschlangen, leere Schaufenster, Taxifahrer in ihren Oldtimern, Straßenkünstler, Feuerzeugauffüller und Musiker.
Auf dem Land die vielen Tabakplantagen, Zuckerrohranbau, Bananenstauden, Ochsenkarren, Strohhüte, Palmen, Rum und Domino.
 
In dieser so neuen Welt sollte ich Weihnachten, das Fest der Tradition feiern. Eine billige Alternative zu den Hotels auf Kuba sind die so genannten Casas Particulares. Familien, die ein Zimmer frei haben, stellen dieses zur Übernachtung zur Verfügung. Dies läuft sehr offiziell ab. Kubanern ist es verboten Ausländer aufzunehmen, solange sie nicht eine Lizenz vom Staat dafür erhalten. Pro Zimmer dürfen höchstens zwei Personen aufgenommen werden. Innerhalb von 24 Stunden müssen Passnummer und Name an das zuständige Amt weitergegeben werden. Geschieht das nicht wird man seiner Lizenz entzogen. Ein weiterer Vorteil eines Casa Particular ist der Einblick ins kubanische Familienleben.
 
Heilig Abend befanden wir uns in Santa Clara. Hier haben Fidel Castro und Che Guevara ihren Traum von der kubanischen Revolution war gemacht, in der letzten Schlacht zu Santa Clara.
 
Moritz, Annelie und ich haben ein Zimmer bei Iris und Miguel, einem alten, sehr zuvorkommenden Ehepaar bekommen. Ich habe noch das Bild vor Augen, wie Miguel im Wohnzimmersessel sitzt, eine Zigarette raucht und über die guten Zeiten seiner Arztkarriere plaudert. Iris ist eine groß gewachsene, schlanke Dame, die noch immer von ihrer Jugend träumt. Sie legt sehr viel wert auf ihr Äußeres, wirkt jedoch keineswegs eingebildet. Sicher waren sie beide das Traumpaar auf ihrer Schule. Sie ist sehr religiös, jedoch Miguel nicht, was man schon an kleinen Details erkennen kann. Zum Beispiel sagt er anstelle von Santa Clara (heilig Clara) Villa Clara (Stadt Clara). Auf Kuba waren Religionen lange Zeit nicht anerkannt und teilweise wurden Städte- und Straßennamen entsprechend umbenannt.
 
So durften wir also ihre Gäste am heiligen Abend sein. Auf dem Weg zur Kirche, in welche uns Iris eingeladen hatte, fiel mir auf, dass es kaum Festtagsbeleuchtung zu sehen gab. Nur das Haus von Iris strahlte in allen Farben. Vor dem Haus einmal quer über die Straße hing eine selbst gebastelte Lichterkette aus Blechdosen. Darunter keine einzige der Marke Coca Cola. Nur große und teure Hotels oder Restaurants verkaufen Coca Cola und dies hauptsächlich wegen der Touristen. Noch wehrt man sich gegen den Einfluss der Getränkefirma. Es gibt die so genannte „TuKola“, quasi die Staatscola.
 
Als wir die Kirche betraten, ist erst zur Hälfte gefüllt. Wir setzten uns rechts in den Seitengang. Vor uns befand sich eine große Säule, die mein Sichtfeld stark einschränkte. So lauschte ich dem Gottesdienst.
Später nach dem Gottesdienst sah ich mir die Kirche an und wunderte mich über die Menschentraube in der Nähe des Altars. Als ich sie fast erreicht hatte erkannte ich einen kleinen Glaskasten, in welchem ein Jesuskind lag, das ungefähr alle 15 Sekunden seine Hand hob und die Augen öffnete. Ich empfand es als etwas kitschig, den Leuten breitete es aber Freude.
 
Zurück im Haus von Miguel und Iris aßen wir zu Abend. Miguel hatte alles vorbereitet, während wir in der Kirche waren. Es gab eine Vielzahl an gereichten Speisen. Einen Braten, Kartoffeln, Salate und Yuka. Das Essen war sehr lecker und eine gute Abwechslung zum scharfen mexikanischen Essen. Für den nächsten Tag riet man uns nach Promedio zu fahren und das jährliche Straßenfest zu besuchen.
 
Am Morgen holte uns ein Taxifahrer am Haus der beiden ab und brachte uns das eine Stunde entfernte Dorf. Schon um zehn Uhr morgens war es sehr heiß. Als wir ankamen, waren die Vorbereitungen noch in vollem Gange. Gerade setzte man die Spitze eines der beiden Lichtertürme auf. Erst gegen Mittag begann das Fest mit Musik, Tanz, Essen und Trank.
Bei einem Spaziergang durch die Seitenstraßen im Zentrum der Kleinstadt wunderten wir uns über die vielen mit Kaninchendraht bespannten Holzrahmen. Es müssen rund 200 Bock ähnliche Gestelle gewesen sein. Schnell einigten wir uns darauf, dass sie zum trocknen von Tabak oder Fisch dienten. Wenig später jedoch durften wir am eigenen Leib erfahren, welchen Nutzen sie hatten.
 
Gerade hatten wir uns im Park auf einer Mauer niedergelassen und sahen dem bunten Treiben zu, als es plötzlich ungewöhnlich laut knallte. Ich erschrak und rechnete mit dem Schlimmsten. Waren wir etwa mitten in eine Schießerei geraten? Die Euphorie und die Jubelschreie der anderen Zaungäste schoben diesen Gedanken schnell beiseite und verhieß den Beginn des Fests. Feuerwerk!
Jedoch nicht so wie ich es aus Deutschland kenne. Alle Raketen sind selber gebaut aus Schilfrohr und Zeitungspapier und wichtig ist, dass sie laut knallen. Der Leuchteffekt spielt nur eine unbedeutende Rolle. Es war nett bis unerwartet die 200 Holzgestelle, die wie wir nun verstanden, als Abschussrampe für ca. 20 bis 30tausend Raketen dienten, gebracht wurden. In einer langen Schlange wurden sie einmal um den ganzen Park aufgestellt und wir befanden uns genau mittendrin. Links von uns hörten wir ein lautes Zischen und das rote Licht einer Leuchtfackel blendete uns. Ein scheinbar furchtloser Mann stolzierte an allen Raketen vorbei und entzündete sie gleichzeitig mit der Fackel. Das nächste was ich sah, war Rauch, Funken, vom Himmel fallende Raketenreste und unter das Dach des Pavillon flüchtende Menschen. Unter diesen befanden auch wir uns.
 
Noch nie hatte ich so eine Angst vor Feuerwerk. Ich kann mir nun gut vorstellen, wie sich manch ein Hund an Silvester fühlt.
 
Als der Rauch sich verzogen hatte und der Nachthimmel sich wieder zeigte, begannen kleine Straßenzüge mit Tanz und Musik. Ein schöner Anblick.
Als neben uns jedoch eine kleine Prügelei auszuarten drohte, es wurde viel Alkohol getrunken, wies uns Annelie mit einer ausdrucksstarken Geste an zurück zum Taxi zu gehen und nach Santa Clara zu fahren.
Weniger spektakulär viel das Neujahrsfest aus. In Viñales, ein sehr kleines Dorf am Fuß der „Kartoffelberge“ im Osten Kubas, mit einer Dose Bier in der Hand auf dem Hauptplatz vor der kleinen Kirche zählten wir zu dritt den Countdown und stießen auf das Jahr 2007. Vier Monate war ich nun von zu hause weg, acht weitere lagen noch vor mir.
 
Den ganzen Tag schon verdecken dunkle Wolken die Sonne, doch glücklicherweise hält der Regen sich noch zurück. Gestern Abend fand die Präsentation und Feier zum zehnjährigen Bestehen Melel Xojobal`s. Zu Rotwein und Tamales (gefüllte Maismasse) wurde die bisherige Arbeit des Projekts beklatscht. Dies war der offizielle und formelle Teil der Feierlichkeit. Heute lud man alle Leute ein, die mit Melel Xojobal auf irgendeine Art und Weise zusammenarbeiten.
Gerade hängen wir zwei große Planen über der Straße auf. Sie wurde extra gesperrt, da das Projektgelände zu klein wäre für alle Gäste. Erwartet werden rund 200 Leute, die zum Klang der Marimba essen und tanzen können.
 
Nach den Vorbereitungen beginnt die Eröffnungszeremonie mit einem Priester aus Chamula. Vor einem Holzkreuz stellt man Kerzen auf den Boden. Eine Art Segnung findet statt. Zu einer monoton klingenden, sich stets wiederholenden Melodie begleiten wir die Musikgruppe mit Rasseln. Die alte Frau neben mir sieht zu mir hoch und amüsiert sich darüber, dass ich mit dem Kopf an die Plane Stoße. Danach greift sie meine Hand und bewegt sich ein Gebet singend zu der Musik. Dabei schließt sie Augen und lacht. Sie hat keine Zähne mehr. Ihre Hand fühlt sich ledrig an. Man erkennt tiefe Falten, die die Sonne über die Jahre in ihrem Gesicht hinterlassen hat. In den Haaren trägt sie bunte Schleifen. Man kniet sich hin und steht wieder auf. Ich verstehe nichts von dem, was der Priester sagt. Er redet in der indigenen Sprache Tzotsil. Zum Schluss reicht man Posh in einem ausgehöhlten Kürbis durch die Reihen. Damit schließt die Zeremonie.
Ich war Teil einer alten Mayatradition.
Nachdem sich alle zu den Tischen begeben haben, verteilen wir das Essen. Die Sonne trägt nun doch zur guten Laune bei und ausgelassen tanzt man zur Marimba. Ein schöner zehnter Geburtstag.  
 
Annelie ist schon wieder in Deutschland und ich finde zurück zum Alltag. Ich fühle mich nach fünf Monaten gut mit dem was ich hier tue. Eine gewisse Routine hat sich eingefunden. Wie ich finde ein wichtiger Bestandteil meines Aufenthalts. Natürlich erlebt man stets noch Überraschungen und gewinnt immer wieder neue Eindrücke und Erfahrungen, jedoch gibt einem die Routine ein Gefühl von Sicherheit. Ich glaube ich kann sagen, dass ich hier lebe und immer tiefer in die mexikanische Lebensart eintauche.
 
Dies ist mir bewusst geworden, als Mauricio, unser bester Freund (ich hatte ihn bereits in den ersten Kapiteln erwähnt) von seiner Europareise zurückkehrte und fasziniert von seinen Erlebnissen in Frankreich und der Schweiz erzählte.
Gespannt lausche ich seinen Erlebnissen und ein Gefühl von Heimweh und Bewunderung macht sich in mir breit. Besonders gefallen mir seine Ausführungen über Langlaufski und Eisstockschießen. Er verstehe einfach nicht, warum man so langweilige Sportarten betreibe. Ich finde es amüsant.
Es mag überzogen klingen, doch während er erzählte schien mir Europa weit weg und interessant. Ich fühlte mich wie jemand, der sagt: „Dort möchte ich auch mal hin!“ Etwas absurd!
 
Mauricio erzählt uns, dass er Anfang März zurück nach Meiko Stadt ziehen möchte. Eine Nachricht, die uns zwar traurig stimmt, jedoch zu erwarten war. Schon im Dezember kündigte er nach zwei Jahren Arbeit bei Melel. Er sagt er brauche einen Wechsel.
Als ich davon erfuhr, ist mir bewusst geworden, dass San Cristobal ein Ort ständigem Wandel ist. Wir lernen viele Leute kennen, die auf der Durchreise sind, die für drei Monate ihren Sozialdienst der Universität leisten oder für einen begrenzten Zeitraum in anderen Projekten arbeiten. Einerseits ist es eine tolle Sache, so viele verschiedene Menschen kennen zu lernen, andererseits sind darunter auch sehr gute Freunde, von denen man sich leider allzu bald wieder verabschieden muss.
Zu diesem Wandel gehören natürlich auch wir.
 
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