Nachdem Moritz wieder einmal in seinem Reiseführer gestöbert hat, forderte er uns auf unsere Touristenkarten auszupacken und zu überprüfen, ob unsere Visen tatsächlich drei Monate gültig seien. In der Rubrik Ein- und Ausreisebestimmungen hatte er gelesen, dass die Dauer des ausgehändigten Visums sehr von der Gemütsverfassung des jeweiligen Grenzbeamten abhängt. An Rouven und mir muss ihn etwas gestört haben. In dem Kästchen wo eigentlich eine 90 stehen sollte, wie es bei Moritz der Fall war, stand auf unseren beiden Karten nur eine 30. Wir hatten ein 30tägiges Touristenvisum, welches am 21.09.2006 seine Gültigkeit verliert und noch fünf Tage Zeit dieses zu verlängern. Unsere Möglichkeiten waren beschränkt.
Schnell stellte sich heraus, dass es nahezu unmöglich ist ein Dreimonatsvisum in der Migrationsbehörde in San Cristobal zu bekommen.
„Und ihr, was wollt ihr hier?“ fauchte uns eine übergewichtige, Mitte vierzig zu sein scheinende Beamtin an.
„Wir sind Freiwillige aus Deutschland…“
Das hätten wir nicht sagen dürfen. Ihre Gesichtszüge verformten sich zu einer Wand aus Stahl und Beton, an der unser Bitten die Visen doch auf drei Monate zu verlängern, abprallten und in einer Welle aus auswendig gelernten Satzfragmenten widerhallten.
„210 Pesos!“
„Für Freiwillige nur 30 Tage!“
„Ich will eine Bescheinigung sehen!“
„Ist nunmal so!“
Moritz, Rouven und ich saßen mit unseren grünen Freiwilligen T-Shirts auf den aus den 70ern stammenden, schwarzen Kunstledersofa. Einen zweiten Versuch als Touristen konnten wir hier vergessen. Der Fernseher zeigte einen Werbespot über Kellog’s Cornflakes.
Gleich am nächsten Morgen befanden Rouven und ich uns im zweiter Klasse Bus nach Tuxtla. Wir saßen im hinteren Teil in der vorletzten Reihe. Mir schmerzte die Wirbelsäule von den drei aufeinanderfolgenden „Topes“ (Hindernisse zur Verkehrsberuhigung) die man überwindet, wenn man San Cristobal verlässt. Wir wollten es bei der Migrationsbehörde in Tuxtla versuchen. Tuxtla ist größer als San Cristobal und nicht ganz so touristisch. Die Chancen stehen besser dort ein neues Visum zu erhalten. Wenn das nicht funktionierte, müssten wir nach Guatemala ausreisen.
Als wir in Tuxtla in der nähe des Zocalos (vgl. Marktplatz) aussteigen ist es ca acht Uhr morgens. Die Sonne brennt und es ist schwül. Die Klimate San Cristobals und Tuxtla unterscheiden sich sehr. Ist es in Tuxtla den ganzen Winter über tropisch heiß, kann es in San Cristobal bis auf Null Grad Celsius abkühlen.
Glücklicherweise trug ich eine kurze Hose, um die mich Rouven sehr beneidete, bis wir nach langem Suche im Migrationsbüro von Tuxtla saßen. Dort sorgte die Klimaanlage dafür, dass ich meinen Pulli überzog. Ich fror. Wieder auf schwarzem Leder sitzend, warteten wir aufgerufen zu werden.
Der Beamte begrüßte uns überraschend freundlich. Höflich baten wir um die Verlängerung unserer Visen. Daraufhin gab er uns einen Zettel mit Dingen, die wir zu besorgen hatten.
„Eine Kopie des Reisepasses, eine Kopie der Kreditkarte, drei SAT5 Formulare und bitte füllen sie diesen Fragebogen aus!“
Wir entfernten uns von der Migrationbehörde. Ich hatte zuvor Julissa und Alejandro, zwei Freunden aus Tuxtla, angekündigt, dass wir in ihre Stadt kommen, wegen unserer Visen und gefragt, ob wir ihre Adresse als unseren derzeitigen Aufenthaltsort auf unserer „Rundreise“ durch Mexiko, angeben dürfen. Dies war kein Problem und Alejandro bot uns sogar seine Hilfe beim besorgen der Unterlagen an, welche, wie sich herausstellen sollte, wir bitter nötig hatten.
Man hatte uns, auf unser Nachfragen, gesagt, dass es das SAT5 Formular nur in vereinzelten Papelerías (Schreibwarengeschäft) zu kaufen gibt. Nachdem wir mit der Hilfe von Alejandro und Julissa die Fragebögen ausgefüllt hatten, begaben wir uns auf die Suche nach einer dieser besagten Papelerías. Ich war froh, dass wir nicht weiterhin zu Fuß gehen mussten. Julissa hatte ein Auto. Jeder Schritt triebe einem eine weitere Schweißperle auf die Stirn.
„Denkst du wirklich wir kommen noch rechtzeitig an? Es ist viertel vor drei und die Migration schließt in 15 Minuten.“
Alejandro grinst: „Beruhige dich! Hier ticken die Uhren anders.“
Wirklich beruhigen konnte ich mich nicht. Sollten wir zu spät kommen, müssten wir in Tuxtla übernachten und einen weiteren Tag in dieser Hitze ausharren. Um fünf vor drei betraten wir die Migration. Der letzte Eintrag in der Warteliste war von 14.20Uhr. Wir schrieben 14.30Uhr. Alejandro hatte uns gesagt wir sollen uns bei ihm melden, falls wir Hilfe brauchen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass wir sie noch in Anspruch nehmen mussten. Am Telefon sagte er mir:
„Natürlich könnt ihr bei mir übernachten! Und wenn ihr schon einmal da seid, kommt ihr heute abend mit zu meiner Uni. Ich stell euch meinen Freunden vor und kann ein bisschen angeben.“
Es kommt wohl nicht oft vor, dass Guerros (Weiße) in der Universität von Tuxtla sind.
Nachdem wir bei ihm zu hause ankamen, erzählten wir ihm, was in der Migration vorgefallen ist. Der Beamte begrüßte uns wieder freundlich. Ich legte alle meine Unterlagen auf den Schreibtisch. Rouven suchte noch und fand alles bis auf die Kopie seiner Kreditkarte. Plötzlich war er sich nicht mehr sicher, ob er sie überhaupt kopiert hatte. Ich war mir fast schon sicher, dass der Beamte nun ähnliche Charakterzüge wie die Dame aus der Migration in San Cristobal zeigen würde. Vielmehr war ich jedoch derjenige, der diese Rolle übernahm. Meine langsam aufkommende Wut verflog schnell, als der Sachbearbeiter mit der Kreditkarte von Rouven den Raum verließ und zu unserer Überraschung mit einer Kopie zurückkehrte. Hatte er uns nicht an diesem Morgen noch versichert, in der Migration könne man nicht kopieren? Er verblüffte uns ein zweites mal, als er drei neue SAT5 Formulare aus der Schublade zog, nachdem er sich auf unseren vertippt hatte. Dabei verzog er keine Miene.
Er gab uns jeweils zwei dieser Formulare ausgefüllt zurück und bat uns damit zur Bank zu gehen und die darauf stehen Summe zu zahlen. Da es schon viertel nach drei war, baten wir ihn kurz warten. Wir versicherten ihm schnell zur Bank zu laufen und sobald wir bezahlt hätten sofort wieder zurückzukehren. Gelassen antwortete er: „Das geht leider nicht“
„Wir versprechen uns zu beeilen“
„Trotzdem, die Bank macht erst morgen um acht wieder auf.“
Schade, dass er recht hatte. Man sah es ihm nicht an, aber innerlich muss er gelacht haben.
Am nächsten Morgen verabschiedeten wir uns von Alejandro und Julissa und bedankten uns noch einmal für ihre Hilfe. Wir wollten nur noch zur Bank und zur Migration, um noch morgens zurück nach San Cristobal zu fahren. Der Abend mir Julissa und Alejandro war lustig. Wir lernten ihre Freunde aus der Universität kennen. Unter ihnen war ein Fan von deutschen Philosophen und Schriftstellern. Er wollte eine Liebeserklärung in deutsch verfassen, um seine Geliebte zurückzugewinnen. Ich half ihm dabei. Es wunderte mich, dass wir so viel Zeit hatten uns mit den Studenten zu unterhalten. Es schien als hätten sie keine Vorlesungen. Als studierten sie alle auf dem Außengelände der Universität im Austausch mit ihren Kollegen.
Wir erreichte die HSBC Bank noch bevor sie öffnete und warteten, als uns ein Bankangestellter ansprach. Er erzählte etwas von einem Feuer. Zumindest war es das einzige Wort, was ich seiner undeutlichen Rede entnehmen konnte. Er gab uns jeweils einen Zettel mit einer Nummer und bat uns zu warten. Wir hatten vor nicht wegzugehen.
Mit fünf weiteren Bankkunden stellten wir uns in die Warteschlange, als der Geschäftsführer in eine Trillerpfeife blies und den Startknopf seiner Stoppuhr drückte. Ich verstand plötzlich was der Bankangestellte uns sagen wollte. Wir waren Teil einer Feuerübung und man bot uns ein Schauspiel aus Automatismen. Alle am Schalter sitzenden Angestellten zogen sich verschieden farbige Schirmmützen an. Jeder hatte seinen Zuständigkeitsbereich. Man verpackte alle wichtigen Unterlagen in feuerfeste Umschläge, während wir der blauen Mütze folgte, die uns stets dazu aufforderte ruhig zu bleiben. Das taten wir.
Nach ca einer halben Stunden bezahlten wir unsere Rechnungen. Nachdem wir gefrühstückt hatten, verließen wir nach einer weiteren Stunden die Migrationsbehörde. In den Händen haltend zwei Fünfmonatsvisen. Wir waren stolz auf uns.
Norma beglückwünscht uns zu unserer Errungenschaft, als Norberto auftaucht. Norberto ist 12 Jahre alt und eines der Kinder mit denen Melel Xojobla beziehungsweise das Unterprojekt Calles arbeitet. Er verkauft Mais und verdient damit sein Geld zum Leben.
Moritz, Rouven und ich nehmen unsere Chance wahr, das erste mal in unserem Freiwilligendienst aktiv zu werden. Wir lesen mit ihm ein Buch, an dessen Gestaltung die Kinder von Melel teilhatten. Auch sein Bild findet sich im buch wieder. Als die Kinder von Arrumacos zum spielen in den Garten kommen, toben wir alle zusammen. Norberto sitzt auf meinen Schultern, als er mir plötzlich auf das Dach des Büros der Chefin entwischt.
Ich erwarte meine erste Standpauke.