Das Barrio (Kapitel 5)

Um kurz nach zwei machten wir uns auf den Weg von Melel nach Sueniños. Der Vormittag bei Melel hat mir gut gefallen. Die Chemie zwischen den Kindern und uns schien zu stimmen. Die Standpauke von Marisol blieb aus. Anfängerfehler.Die Anfahrt zu Sueniños war, wie ich sie mir vorgestellt habe, anstrengend und schweißtreibend. Mittlerweile haben wir Fahrräder. Es war nicht leicht Gebrauchträder zu bekommen. Glücklicherweise brauchte ein Freund seines nicht mehr und ein Arbeitskollege bei Melel bot sein altes Rad ebenfalls zum Verkauf an. Mein Fahrrad kaufte ich einem Schlosser für 500 Pesos ab, welcher seine eigene kleine Werkstatt in der Nähe des Marktes hat. Er bot uns ein weiters Fahrrad an, welches er allerdings erst zum Wochenende besorgen könnte. Wir dankten ab, verabschiedeten uns und spekulierten über die Herkunft meines Rades. Vermutlich geklaut.„Servus!“Christian, unser Chef, betritt den Klassenraum. Er begrüßt uns und erklärt uns das Projekt noch einmal.„Eine eurer Aufgaben habt ihr ja schon richtig erkannt, die Hausaufgabenbetreuung. Stellt euch aber auch darauf ein schwer zu schleppen. Die zwei Haufen Sand  und Kies vorm Eingang müssen noch runter geschafft werden. Den Rest habe ich euch ja schon erzählt. Ach ja, die Kinder kommen mit den Kleinbussen zwischen drei und Vier an. Dann solltet auch ihr hier sein. Danach gibt es Mittagessen, die Kinder waschen sich und ziehen sich um. Während sie ihre Hausaufgaben machen, wäscht Luci, die Köchin, die dreckigen Anziehsachen. Wenn die Hausaufgaben gemacht sind, dürfen die Kinder draußen oder drinnen spielen. Gegen sechs Uhr wird zu Abend gegessen und dann kommen auch schon die Busse, die die Kinder wieder nach hause bringen.„Mögt ihr Fussball?“Wir nicken.„Sehr gut, die Jungs stehen nämlich total drauf.“Ich werde abgelenkt, weil ich glaube meinen Namen gehört zu haben. Jedoch war ich nicht gemeint, sondern das Mädchen, welches sich gerade ihre langen schwarzen Haare kämmt. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich meinen Namen in weiblicher Form höre. Das Mädchen heißt Sebastiana.Als ich zu unserem Gespräch mit Christian zurückfinde, lädt er uns ein am Wochenende mit ihm in eines der barrios (Stadtviertel) zu fahren, in denen die Kinder wohnen. Er will dort eine Tür reparieren. Am Samstag um zwei Uhr sitzen Moritz und ich auf der Stufe des Eingangs zum Museum für Mayamedizin. Auf der anderen Straßenseite steht auf einer weißen Hauswand in Schreibschrift der Name der Colonia „1ro de enero“. Die Straße ist voll von Schlaglöchern. Der Bürgersteig ein Randstreifen aus Schotter. Die Sonne scheint. Es ist sehr warm. Ein schöner Tag. Ich packe die Gitarre aus und beginne ein paar Akkorde zu spielen. Einen Huapanco. Es ist Moritz Gitarre. Er hatte sie auf seiner Reise durch Bolivien billig erworben und jetzt leiht er sie mir für meinen Gitarrenunterricht. Heute hatte ich meine dritte Unterrichtsstunde. Jeden Dienstag und Samstag treffe ich mich mit Pablo, meinem Lehrer, im Café museo café und lasse mir mexikanische Rhythmen und Melodien beibringen. Pablo kennt den Besitzer des Cafés gut, daher erlaubt uns dieser dort spielen. Manchmal schauen die Leute etwas verwundert zu unserem Tisch herüber, jedoch beschwert wird sich nur äußerst selten. Ich habe Pablo durch meinen Spanischlehrer kennen gelernt. Er erzählte mir er hätte einen Freund, der täglich in einem Café im Zentrum spielt und singt. Nach einem seiner Auftritte habe ich ihn gefragt, ob er mir Unterricht geben könnte. Pablo lebt seit er klein ist in San Cristobal. Das Gitarrespielen hat er in den Straßen gelernt, daher musste er sich die Musiktheorie im Nachhinein mühsam erarbeiten.Die Musikstunden mit ihm sind eine gute Abwechslung zu der Arbeit mit den Kindern. Es macht Spaß. Von weitem sehen wir Rouven kommen. Er hat sich verspätet. Ist aber nicht weiter schlimm, weil Christian noch nicht da ist. Rouven setzt sich zu uns, als der weiße Jeep unseres Chefs um die Kurve kommt. Wir steigen zu und fahren ins Barrio. Wir kommen nur langsam voran. Schlaglöcher und Schotterpiste schaukeln den Wagen durch. Die Straße wird begrenzt von Holzzäunen. Man kann die Wellblechdächer und Teile der Baracken sehen, die dahinter stehen. Hunde kreuzen die Straße. Wir überqueren einen Bach. Es stinkt. Er dient als Abwasserkanal. Ein Kind verfolgt uns auf seinem Fahrrad und eine Gruppe von Jugendlichen blickt dem Wagen hinterher. Ich kann mir nicht erklären warum, aber ich fürchte mich etwas davor den sicheren Wagen in Kürze zu verlassen, obwohl es taghell ist. Waffengewalt ist keine Seltenheit hier. Das Bild eines neuen, weißen Jeep zwischen Holzbaracken und Müll ist kontrastreich und erwirkt nicht immer Sympathie bei der armen Bevölkerung. Er macht mir die Schlucht zwischen dem Leben der Menschen, die hier wohnen und unserem Leben in Deutschland bewusst. Klagt man in Deutschland über einen Stromausfall von einer Stunde, ist man hier froh, wenn man nachts eine Kerze hat. Nicht alle haben Strom im Viertel. Und wenn ja, dann ist er meist geklaut. Als wir im Haus von Rodrigo ankommen, steht Adriana, die kleinste der Familie, auf dem Zaun und winkt. „Hola Christian!“Die Kinder mögen ihn sehr. Christian schaut sich die Tür an. Sie schloss nicht mehr richtig und darum hatte der Großvater einfach ein Stück unten abgesägt. Das führte dazu, dass bei Regen Wasser ins Haus läuft und ungebetene Gäste wie Hunde und Katzen Einlass erhalten. Christian versucht die Tür zu öffnen.„Meine Mutter kommt erst um acht Uhr wieder von der Arbeit zurück und sie hat den Schlüssel.“ Die Tür ist verschlossen.„Und ihr bleibt die ganze Zeit hier draußen im Garten?“ Christian ist überrascht.„Dann müssen wir mal dafür sorgen, dass ihr auch einen Schlüssel bekommt!“Der Garten, indem die Kinder tagsüber spielen erinnert eher an eine Güllegrube.  Das Grundstück ist ca 80qm groß. Auf der linken Seite befindet sich die Hütte, bestehend aus zwei Räumen. Das Schlafzimmer der Mutter und der drei Mädchen und das Schlafzimmer von Rodrigo und seinem Bruder, welches gleichzeitig als Küche dient. Hinter der Hütte steht ein kleiner Holzverschlag, behängt mit Stofffetzen alter Kleider oder Tischdecken. Der Wind weht die Tücher zur Seite und gewährt uns einen kurzen Einblick. Es ist die Toilette. Ein Loch im Boden. Daher auch der Gestank. Mir wird ein wenig übel. Meine Schuhe stecken im Schlamm.„Machen wir uns an die Arbeit!“ Ich muss mich etwas ablenken. Christian hatte kurzfristig entschieden, dass wir die Tür im Zaun, die auf das Grundstück führt, statt der Haustür, heute reparieren. Sie fällt bald auseinander. Während er und Rouven Nägel und Scharniere besorgen, demontieren Moritz und ich die Tür.Als wir fertig sind spielen und toben wir mit den Kindern, um die Zeit zu überbrücken bis die anderen zurückkommen. Es macht Spaß. Es scheint, als hätten Rodrigo und seine Geschwister wenig Gelegenheiten dazu. Ich versuche den Gestank und Dreck zu ignorieren, doch es fällt mir nicht leicht. Teilweise haben die Kinder Läuse. Daran muss ich mich gewöhnen. Es ist mir unangenehm, dass mir diese Dinge besonders auffallen und ich mich nahezu daran störe. Vielleicht ist es aber auch die Aufforderung an mich hier Hilfe zu leisten. Wir möchten gerne den Garten trocken legen, um Gemüse anbauen zu können, und eine richtige Toilette bzw eine Latrine installieren. Der weiße Jeep fährt wieder vor und Rouven und Christian schaffen die Baumaterialien heran. Wir montieren die Eingangstür.Anmerkung: Gleichzeitig bittet Sebastian um finanzielle Unterstützung für das Projekt. Spenden schicken Sie bitte an folgende Bankverbindung:Kontoinhaber: WISE e.V.Kontonummer: 8611300BLZ: 550 205 00Betreff: Spende WISE e.V. 76017Die Fotos finden Sie in der Rubrik Bildergalerie / San Cristobal.