Kapitel 6: Der Sturz

Die Haustür fällt zu und ich höre Moritz Stimme: „Na Jung, wie isset?“ Rouven und er kommen gerade von der Arbeit. Es ist halb vier und ein sonniger Herbsttag. Bald habe ich Geburtstag.„Hab bis jetzt im Bett gelegen“, erwidere ich, „Mein Kopf brummt mir noch ziemlich.“„Was macht dein Auge?“, ruft Rouven aus dem Esszimmer. Ich verstehe ihn jedoch akustisch kaum. Obwohl man glaubt die Wände seien aus Karton, verliert sich der Schall doch in allen Ecken und Nischen.„Musst morgen mitkommen zu Melel! Der Workshop ist echt gut. Morgen geht’s weiter.“In unserem Hauptprojekt findet gerade ein Workshop über die Rechte des Kindes statt. Ich wäre gerne hingegangen. Ist sicher interessant, jedoch war es wirklich besser heute im Bett zu bleiben. Die Wunden sind noch nicht soweit verheilt, um hinausgehen zu können. Sie sind noch feucht und reißen oft auf.Am Samstagabend hatte ich einen Unfall mit meinem Fahrrad und das Vergnügen das Rote Kreuz in Mexiko kennen zu lernen. Auf dem Rückweg von einem Freund nach hause, wir hatten uns zu einer Partie Doppelkopf getroffen, hielten wir noch kurz am Ende der lange abfallenden Strae an der Ecke, an welcher viele Taxifahrer ihre Mittagspausen am kleinen Essstand verbringen. Es waren circa halb eins nachts, der Himmel sternklar und der Geruch von Tamales, Tacos und Atole längst verflogen. Hier verabschiedeten wir Fide, ebenso deutscher Zivildienstleistender, da er links auf den Boulevard abbiegen musste. Er wohnt gegenüber dem Busbahnhof. Dort wo wir im August angekommen sind. Wir kreuzten die Hauptstraße, passierten die Apotheke, deren Reklamelichter noch leuchteten, wegen des Notdienstes. Geschickt versuchte ich das Regengatter in der Straße zu überqueren, indem ich den Lenker ein Stück weit hochziehe, als sich unerwartet bei voller Fahrt der Vorderreifen löste. Durch den enormen Ruck, verursacht durch das Aufkommen der Vordergabel auf der Straße, flog ich vorne über den Lenker und spürte kurz danach wie mein Gesicht auf dem rauhen Beton aufprallte. Das nächste was ich vernahm war Moritz‘ Stimme, welche mich ausdrücklich dazu aufforderte mich von der Straße zu erheben. Meinen Vorderreifen in der Hand half er mir hoch und hinüber zum Bürgersteig. Mein Gesicht brannte und Schulter und Knie schmerzten. Ich merkte wie mir Blut über die Wange in den Mund läuft. Ich mag den Geschmack von Blut nicht. Mit meiner Zunge tastete ich, ein wenig benommen noch vom Sturz, meine Zähne ab. Alle waren noch vorhanden.Hundert Meter weiter, kurz hinter dem Schlachthof, mussten wir dreimal klingeln, bis ein verschlafener Nothelfer des Roten Kreuzes uns die Tür öffnete. Eine Erklärung unsererseits war nicht nötig. Mein blutverschmiertes Gesicht reichte ihm und so führte er uns in das Untersuchungszimmer. Dort warteten auch schon zwei Arzthelferinnen und eine dritte betrat kurz nach mir den Raum, welche sogleich meine Wunden säuberte und desinfizierte. Es brannte noch mehr.Als sie fertig war, mussten wir auf den Arzt warten. Sie wusch ihre Hände in der kleinen Wasserschüssel auf dem Metallregal, während die beiden anderen Helferinnen bewegungslos auf der anderen Seite der Liege standen und mich anstarrten. Ihre Münder halb offen und in den Augen noch der Schlaf. „Könnte ich ein Glas Wasser haben und etwas, wo rein ich mich übergeben kann?“Mit diesen Worten holte ich sie zurück in die Realität. Als sich eine von ihnen auf dem Weg machte das Wasser zu holen, hatte der Arzt schon in der Türe gestanden und zog sich den weißen Kittel an. Dann begann er die Wunden aufs Neue zu desinfizieren und untersuchte meinen Schädel auf Brüche, während langsam die Betäubungsspritze ihre Wirkung zeigte. Mein linkes Augenlid senkte sich und ich spürte im Bereich der Schläfe nichts mehr. Gekonnt nähte er den zurück gefalteten Hautlappen über dem Wangenknochen wieder fest. Von draußen hörte ich wie Moritz sich von der Szene entfernte. Später erzählte er mir, ihm sei übel geworden. Nachdem der Arzt mir das Rezept für das Antibiotika und noch eine Anweisungen zu den Fäden gab, verließen wir das Rote Kreuz mit einem Eindruck vom Gesundheitssystem mehr und 200 Pesos weniger für die Behandlung. Im Bad fällt mir ein, dass ich Pablo noch sagen muss, dass ich heute nicht kommen kann. Meine Finger sind noch zu unbeweglich, um schon wieder spielen zu können.Der Klodeckel lehnt mir unangenehm, kalt im Rücken. Er klappt immer wieder zu. Sowieso ist die Toilette nicht einfach im Umgang. An der Seite ist sie leicht undicht und oft muss man mehrmals hintereinander abziehen. Vergisst man es, sorgt dies für schlechte Stimmung und Geruch in der WG. Pablo ist mein Gitarrenlehrer, bei dem ich seit ungefähr 4 Wochen Unterricht nehme. Es macht sehr Spaß. Er bringt mir gerade den Huapanco und einen Rumba bei. Es ist nicht sehr leicht. Als Deutscher fehlt einem das lateinamerikanische Rhythmusgefühl. Er hat es einfach im Blut.Anfangs war es noch ungewohnt. Er ist mein erster richtiger Gitarrenlehrer. Zwar hat mein Vater mir das Instrument näher gebracht und auch einige Dinge zeigen können, jedoch habe ich später nur für mich gespielt und mehr probiert, als systematisch gelernt.Pablo hat auf der Straße spielen gelernt. Seit seiner Kindheit wohnt er in San Cristobal. Seine Lehrer waren oft nicht nur Musiker, teilweise versuchten sie sich als „Straßenphilosophen“, was sich gelegentlich in den Unterrichtsstunden äußert. So kommt es hin und wieder zu ausgedehnteren Sitzungen und ein zweiter Kaffee wird bestellt. Wir treffen uns immer im „café museo café“. Ein altes, recht großes Café nahe am Stadtzentrum, mit erstaunlich wenig Betrieb. Hier sitzen wir mit einem Kaffee umgeben im Prinzip ein kleines „Konzert“ für die Gäste. Früher spielte Pablo hier täglich mit einem Freund. Auch eine Platte hat er hier aufgenommen.Jetzt schon weiß ich, dass er Ende November für sechs Monate nach Spanien geht, um sich dort musikalisch weiterzubilden. Ich werde mir wohl dann einen neuen Lehrer suchen, müssen. „Willst du nicht mal die Verbände wechseln? Etwas Luft tut den Wunden bestimmt auch mal gut.“Vor dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken löse ich langsam und vorsichtig das Pflaster ab, während Moritz mit dem Desinfektionsspray die angetrockneten Stellen aufweicht. „Ein schönes Andenken hast du da!“ Zum ersten Mal sehe ich die Naht neben meinem Auge. Nur zwei Zentimeter. Ich habe wirklich Glück gehabt. Ich hoffe, dass alles schnell verheilt. Wir haben nämlich vor über den „día de los muertos“ (Tag der Toten) nach Palenque zu den Mayaruinen zu fahren. Als ich am nächsten Morgen ins Colectivo steige, fühle ich mich noch immer etwas müde. Das Antibiotikum macht mir ein wenig zu schaffen. Hinzu kommen die verwirrten Gesichter der anderen Fahrgäste. Ich muss wohl aussehen, als wäre ich in eine Schlägerei verwickelt gewesen. Ein schlechtes Bild, das ich von einem Europäer vermittle. Ganz überraschend hingegen sind die Reaktionen der Kinder mit denen wir auf der Straße arbeiten, als ich am Platz vor der Kathedrale aussteige. Natürlich sind sie verschreckt und etwas verängstigt, als sie mich sehen, jedoch kurz darauf hängen sie an meinen Armen und fragen mich was passiert ist. Ein paar Jungs wollen wissen, wer mich so zugerichtet hat, den Racheakt schon planend. Ich bin froh, dass sie keine Angst haben vor mir. Auch auf der Arbeit denken einige sie müssten einen Witz reißen und fragen, welcher kleine Mexikaner gegen einen großen Deutschen gewinnt. Nur Jenny macht sich ernsthaft sorgen um meine Gesundheit und zwingt mich förmlich zum Arzt zu gehen. Sie gibt mir die Nummer ihres Arztes. Mitte Oktober beginnen die Aufstände und Straßenkämpfe in Oaxaca-Stadt im gleichnamigen, benachbarten Bundesstaat Oaxaca. Der jährliche Lehrerstreit artet zu einem bewaffneten Kampf zwischen Polizei und Bürgern aus. Protestanten fordern den Abtritt des Gouverneurs Ulises Ruiz, welchem Korruption vorgeworfen wird. Das Militär muss die Stadt einnehmen und es sterben ca. 30 Menschen. Darunter ein 14jähriges Mädchen und ein amerikanischer Kameramann. Heute habe ich Geburtstag und noch immer nicht war ich beim Arzt. Gegen 21.30Uhr höre ich von draußen lauten Gesang. Ich hatte ein paar Leute für 20.00Uhr eingeladen. Bis jetzt ist noch niemand aufgetaucht. Als ich die Türe öffne, beglückwünschen mich Mauricio, Jordi, Gloria und Yaredh, in der Hand eine Gitarre. Sie haben ein besonderes Geschenk für mich. Ein selbst geschriebenes Lied. Ich verstehe nur wenig von Text. Vieles geht im Gegröle unter. Doch glücklicher Weise bekomme ich das Lied auch in schriftlicher Form ausgehändigt. Ich bin froh, dass sie da sind. Ich hatte mit niemandem mehr der 15 eingeladenen Gäste gerechnet. Wäre sonst ein sehr trister Geburtstag geworden. Im Wohnzimmer nehmen wir etwas von dem zu vielen Essen zu uns und fahren schon nach ungefähr einer Stunde auf eine andere Geburtstagsfeier. Es macht mir nichts aus.Zu meiner Überraschung treffe ich auf der Party einige meiner Gäste. Es ist mir egal. Ich bin nicht sauer oder beleidigt, eher denke ich das gehört zur mexikanischen Lebensart und wir feiern alle zusammen.Das ganze findet im Innenhof, der sogenannte Patio, eines Privathauses im Zentrum der Stadt statt. Alles ist festlich geschmückt. Mir fällt der große bunte Stern auf, der an einer Leine befestigt vom Dach herunter hängt. Mau erklärt mir, es sei eine Piñata. Ein mit bunten Papierstücken beklebter und geschmückter Tonkrug, gefüllt mit Süßigkeiten und Früchten.Im nächsten Moment steht Maria, das Geburtstagskind mit verbundenen Augen und mit einem Stock in den Händen vor dem bunten Stern und drescht auf ihn ein. Als er zu Boden stürzt und zerspringt, fallen alle über die Bonbons her. Dies sei eine mexikanische Tradition sagt mir Mau und eine weitere habe ich schon kennen gelernt. Eine Torte wird gebracht. Maria muss die Kerzen auspusten und danach ein Stück mit dem Mund abbeißen. Genau in diesem Moment drückt man ihr die gesamte Torte in Gesicht. Ein lustiges Bild. Das gleiche hatten Mau und Jordi vor anderthalb Stunden mit mir gemacht. Da es jedoch keine Torte gab, durfte ich mir danach Bohnenmus aus dem Gesicht wischen. Lecker.********************************************************************************Anmerkung: Gleichzeitig bittet Sebastian um finanzielle Unterstützung für das Projekt. Spenden schicken Sie bitte an folgende Bankverbindung:Kontoinhaber: WISE e.V.Kontonummer: 8611300BLZ: 550 205 00Betreff: Spende WISE e.V. 76017Die Fotos finden Sie in der Rubrik Bildergalerie / San Cristobal.