Wir haben uns vorgenommen Fahrräder zu kaufen, um das Bus- und Taxigeld zu sparen, welches wir für den Weg nach Sueniños in Zukunft benötigen würden. Ich sehe mich auf einem viel zu kleinem Rad im Kampf gegen die Steigung die Bergstraße erklimmen. Die Idee überzeugt mich noch nicht.Unser Taxi hält an einer kleinen Kapelle, direkt dahinter steht das Zentrum. Ich blicke noch einmal die Straße zur Stadt herab. Es müssen ungefähr drei Kilometer sein.Die Gossen am Rand der Straße füllen sich mit Wasser. Sie gleichen überfluteten Gebirgsbächen, jedoch sind sie nicht sauber und klar, sondern undurchsichtig und braun. Plastiktüten und alte Flaschen werden weggespült. Ein Stück Gummischlauch, verkeilt an einem Stein, hält dem Strom stand. Es regnet.Neugierig schauen die Kinder über die Fensterbänke in den Innenhof, als wir das Zentrum betreten. Es wird geflüstert und schüchtern unseren Blicken ausgewichen. Wir begrüßen die Lehrer, die weiblichen mit Wangenkuss, die Köchin und die Kinder. Wenig später erscheinen auch Christian und Alma und wir besprechen den Arbeitsplan. Alma ist dick, denn sie bekommt bald ein Baby. Ruben und Clemens bedauern, dass sie die Geburt wohl nicht mehr miterleben werden, da sie dann schon wieder in Deutschland sind. Einerseits finde ich es schade, dass die beiden schon bald abreisen. Es macht Spaß mit ihnen San Cristobal kennen zu lernen. Andererseits freue ich mich darauf mein Zimmer beziehen zu können und nicht mehr auf dem Boden schlafen zu müssen. Heute Morgen werde ich früh von dem unangenehmen Ton meines Weckers geweckt. Es ist Montag der 25.09.2006 und 7.34Uhr. Mein erster Arbeitstag. Clemens und Ruben sind schon seid ca dreieinhalb Wochen wieder in Deutschland. Ich habe mich gut eingelebt. Die Hausarbeiten sind aufgeteilt und mein Zimmer ist fertig bezogen. Eines der beiden Regale, welches neben meinem Bett stand, dient nun als Geschirrschrank im Esszimmer. Dafür habe ich mir einen Schreibtisch gekauft an dem ich mich meinen Spanischstudien widmen kann. Den Sprachkurs haben wir schon letzte Woche beendet. Alma und Christian haben ein gesundes und hübsches Mädchen bekommen.Verschlafen denke ich über die Vier vergangenen Wochen nach. Es hat sich viel getan. Trotz der doch recht kurzen Zeit konnte ich viele Eindrücke sammeln und mexikanische Eigenarten erleben. Damals als wir zum ersten Mmal mit Ruben und Clemens in das Einkaufs¬zentrum „Chedraui“ gingen, wurde mir von einer am Taxistand arbeitenden Dame hintergepfiffen, nur weil ich groß und blond bin.„Ssst, hello there!“Das schmeichelt.Am Möbelmarkt, in der Nähe der „Colonia des ersten Januars“, am Tag als wird die Schreibtische eingekauft haben, wurde ich von einem sehr alten, zahnlosen Mann, in zerfetzter Kleidung, einen Cowboyhut tragend, mit Maestro (Lehrer) angesprochen und um fünf Pesos gebeten. Ich empfand es als unwürdig für diesen Mann. Ich, der 19jährige Jüngling, der Respekt vor dem Alter hat, wird mit einem Titel bezeichnet, welchen der Mann mit dem Cowboyhut sicherlich eher verdient als ich.Später verließen wir den Möbelmarkt mit zwei Schreibtischen und einem Hocker. Die Möbelstücke auf dem Dach eines Taxis verkehrt herum abgelegt. Gesichert mit unserem Griff durch die Seitenfenster. Jeder ein Tischbein packend. Inklusive dem Taxifahrer, welcher mit dem Knie Schlaglöchern ausweichend, einhändig den Wagen mit manueller Schaltung durch Seitenstraßen und Schleichwege lenkte, um nicht der Polizei zu begegnen.Der Straßenverkehr ist gewöhnungsbedürftig. Autos haben generell Vorfahrt und bestehen grundsätzlich auf ihr Recht. Dennoch muss man zugeben, dass die Mexikaner gute Autofahrer sind. Der Verkehr fließt und stockt kaum und wie sie die überdimensionalen, amerikanischen Pickups und Jeeps durch die engen Gassen im Stadtzentrum der Kolonialstadt manövrieren ohne sämtliche Außenspiegel abzubrechen, grenzt an ein Wunder. Wäre der Eisberg ein Mexikaner gewesen, hätte die Titanic sicherlich New York erreicht. Ein weiterer wichtiger Bestandteil der Infrastruktur von San Cristobal sind die „Colectivos“. Kleinbusse, hauptsächlich WV Bullies oder Nissans, mit welchen man auf festen Ruten durch die Stadt fahren kann. Es ist vergleichbar mit dem Kölner Nahverkehr, nur dass man nahezu immer und überall ein- und aussteigen kann. Diese Transportmöglichkeit wird all zu gern genutzt. Ich muss schmunzeln. Der derzeitige Rekord liegt bei 21 Fahrgästen in einem VW Bullie. Colectivo Fahrten sind stets interessant. Mal sitzt man eng zusammen gerückt auf der Rückbank im Laderaum und schweigt sich an, mal ist man involviert in eine heftige Diskussion in welcher der gesamte Kleinbus seine Standpunkte vertritt. Ich muss mich an eine Situation erinnern in der ich in ein Gespräch von fünf üppigen, mexikanischen Mamas platzte. Schlagartig änderten sie das Gesprächsthema und ich war Mittelpunkt der Diskussionsrunde. Ich konnte nicht alles verstehen und das wussten sie. Ihre Blicke und ihr Grinsen verrieten sie jedoch. Mir gegenüber saß eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter und als wollte sie nicht, dass ihre Kleine die Debatte stört, wurde vorsorglich die Brust ausgepackt und im wahrsten Sinne des Wortes gestillt.Wenn ich durch das Stadtzentrum spaziere, treffe ich sehr häufig auf Kinder, die ich aus dem Projekt Melel kenne. Es ist lustig, wie sie mit einem Mitleid erregenden Blick auf mich zukommen, mit trauriger Stimme fragen, ob ich nicht etwas kaufen möchte und mich dann plötzlich erkennen und anfangen zu lachen, da sie wissen, dass ich ihre Verkaufstricks kenne. Die Kinder sind sehr gute Geschäftsfrauen und -Männer. Vor allem die Mädchen wissen, wie sie ihre Ware Touristen verkaufen. Es sind schöne Sachen. Auch mich haben sie schon als Kunde gewonnen. Ich habe mir einen Gürtel gekauft, der an ein zu großes Freundschaftsbändchen erinnert.Während ich mich mit den Kindern unterhalte, erscheint regelmäßig ein äußerst freundlich wirkender Mann im weißen Hemd, mit einem Spendenformular winkend. Er fragt, ob ich die Kinder nicht finanziell unterstützen wolle. Ich muss zugeben, dass ich sein Schauspiel erst für wahr gehalten habe, doch die Kinder klären mich über den Betrug auf. Er kassiere ab und die Kinder erhielten nichts von dem Geld. Wenn er mir heute begegnet und ich grinsend seine Show genieße, bricht er meist vorzeitig ab.„Ah, ya me conoce?“ („Sie kennen mich schon?“)Auch das Wetter präsentierte sich vielseitig. Bei strahlend blauem Himmel fuhren vier zu fünft im Auto von Mauricio in die Comunidad Chamula, einer Art Gemeinde ca eine halbe Stunde von San Cristobal entfernt. Mauricio hat gleichzeitig mit Ruben und Clemens bei Melel Xojobal angefangen und arbeitet immer noch dort. Ursprünglich kommt er aus Mexiko Stadt lebt aber nun in San Cristobal. Er hat Psychologie studiert. Wenn wir Hilfe brauchen, können wir uns immer an ihn wenden, in jeder Hinsicht.Eine Stunde später mussten wir die Comunidad wieder verlassen, da es scheinbar von allen Seiten an fing zu regen. Man war der Meinung sogar von unten.Moritz hatte am 13. September Geburtstag. Wir feierten ein wenig mit Christian und Mauricio.Ihm gefiel sein Geburtstag, trotz der Tatsache, dass es keine große Party war, wie er sie aus Deutschland gewohnt ist. Es war auch das erste Mal für uns, dass wir in den Genuss von gutem Tequila gekommen sind. Er schmeckt auch ohne Zitrone und Salz. Ein lustiger Abend. Als wir uns nach einer Dusche und dem Frühstück zu dritt auf den Weg zur Arbeit begeben, sehe ich wieder einen alten Mann mit einem weißen Cowboyhut. Er steht täglich an der Schranke einer benachbarten Colonia. Morgens öffnet er, abends schließt. Ob die weißen Hüte eine besondere Bedeutung haben, frage ich mich. Schützen sie nur vor der Sonne, sollte ich mir auch einen anschaffen. Wieder habe ich mir meine Nase verbrannt. Sie pellt sich. In der Calle Nicólas sehe ich von weitem das blau und weiß gestrichene Haus des Kinderprojekts Melel Xojobal, nicht weit entfernt vom Stadtzentrum. Die Doppeltüre öffnet sich nur zur Hälfte, nachdem wir schellten. Es ist eng. Wir treten ein. Erst begrüßen wir Mauricio, der uns gleich darauf zur Projektleiterin Claudia führt. Sie begrüßen wir ebenfalls und werden aufgeklärt wie unsere Arbeit aussehen wird.„Melel ist aufgeteilt in drei Projekte. Ihr werdet in „Calles“ eingesetzt.“ Sie schickt uns zu Marisol, der Leiterin von „Calles“. Betritt man das Projekthaus Melel Xojobal befindet man sich in einem kleinen, überdachten Eingangshof. Auf der linken Seite ist das Büro. Hier sitzt das Projekt „comunicación“. Man leistet PR Arbeit, kümmert sich um Spenden und sucht nach Möglichkeiten das Projekt zu verbessern beziehungsweise den gegebenen Umständen anzupassen. Melel Xojobal ist sehr flexibel. Es arbeitet mit der indigenen Bevölkerung San Cristobals. Hauptsächlich mit den Kindern, die auf der Straße arbeiten.Erst machte Melel es sich zur Aufgabe, die alte Maya Kultur wieder auferleben zu lassen und noch bestehende Traditionen zu wahren. Dies ist eine ungemein schwierige Aufgabe, da die Kinder ihrer Zielgruppe einer neuen Generation angehören. Man könnte sie als Stadtindigene bezeichnen oder als moderne Mayas. Oft geriet das Projekt mit ihren Methoden in Sackgassen. So ist es zum Beispiel fast unmöglich den Menschen Wasser wieder schmackhaft zu machen, wenn seid Jahren Coca Cola das Traditionsgetränk ist. Es wird nicht mehr um alte Werte gekämpft, sondern auf die Bedürfnisse der jungen indigenen Bevölkerungsgruppe eingegangen, welche in Missachtung und Diskriminierung aufwächst. Warum dem Neandertaler Steine geben, wenn er selber das Feuerzeug bevorzugt? In dem kleinen Innenhof befindet zu dem noch die Treppe, welche in den Tapanco führt. Dort können die Kinder Lesen, Spielen und am Computer arbeiten.Geht man durch den Gang am hinteren Ende des Eingangshofs an der Küche vorbei gelangt man in den Garten. Hier gibt eine Spielfläche für die ganz kleinen Kinder aus dem zweiten Projekt Arrumacos. Es versteht sich als Tagesstätte für Kleinkinder und Babys. Hauptsächlich Mütter, die von den Vätern der Kinder verlassen wurden und tagsüber arbeiten müssen, nutzen die Dienste der drei sehr sympathischen Damen, welche die Kinder beaufsichtigen. Auf der linken Seite ist das „Calles“ Zentrum. Rouven, Moritz und ich betreten unseren neuen Arbeitsplatz.